Weshalb Fehler nicht aus unserem Leben wegzudenken sind

    Fehler – Sie nerven uns, verunsichern uns und gehören dennoch zu uns wie die Luft zum Atmen. Im Gewerbemuseum Winterthur kann bis zum 12. Mai 2024 die Ausstellung «Perfectly Imperfect – Makel, Mankos und Defekte» besucht werden. Diese beschäftigt sich mit den Hintergründen, Folgen und Notwendigkeiten der Fehler und zeigt auf: Letzendlich sind Fehler doch genau das, welches das Endresultat oftmals «perfekt» machen.

    (Bild: Pieke Bergmans) Wie kann man mit Erwartungen spielen und absichtlich die Grenzen des Möglichen und des sogenannt Perfekten ausloten? Die Melted Bronze-Stühle von Pieke Bergman machen es vor.

    Bei der Arbeit muss man bis auf die letzte Sekunde hoch konzentriert sein und darf keinen Fehler machen, sonst ist man kein guter Angestellter oder keine gute Angestellte. In der Schule streckt man nur dann auf, wenn man die richtige Antwort weiss, falsche Antworten sind peinlich. Bei Gesprächen muss man immer das Richtige sagen, sonst zermalmt man sich Tage später darüber noch den Kopf. Der Druck, in jeder Situation immer das Perfekte zu machen, ist gross, die Angst vor dem Unperfekten riesig. Doch wieso ist das so? Sind Fehler wirklich so schlecht? Über mehrere Monate beschäftigten sich die Kuratorin Susanna Kumschick und der Kurator Mario Pellin der Ausstellung «Perfectly Imperfect – Makel, Mankos und Defekte» im Gewerbemuseum Winterthur mit diesen Fragen. Susanna Kumschick gewährt im Interview Einblicke hinter die Kulissen der Ausstellungen.

    Bevorzugen Sie in Ihrem Alltag persönlich das Perfekte oder das Unperfekte?
    Susanna Kumschick: Wenn ich auf dem Markt einkaufe, ist mir das krumme Bio-Gemüse wichtiger als normiertes und auch meine Frisur und meine Kleider müssen nicht immer perfekt sitzen. Meine Brillengläser hingegen sollen ganz genau geschliffen sein und beim anstehenden Autoreifenwechsel zähle ich auf absolute Präzision.

    Wie ist die Idee zur Ausstellung «Perfectly Imperfect – Makel, Mankos und Defekte» entstanden?
    Während der Pandemie mussten wir viel improvisieren. So bauten wir für unsere Gäste im Museumscafé eine Bühne aus Holz für mehr Platz. Daraus wurde ein dreijähriges perfekt unperfektes Provisorium – und der Anstoss dazu, die Ideen für eine Ausstellung weiterzuspinnen.

    Inwiefern konnten Sie als Kuratorin der Ausstellung Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Unvollkommenen, Unperfekten, miteinbeziehen?
    Es sind die vielen persönlichen Gespräche mit Designern und Designerinnen und anderen Kreativen über ihre Arbeitsweisen, über Design, Handwerk und Kunst. Aber vor allem auch über ihren Umgang mit dem Scheitern, die Arbeit mit dem Zufall und die Frage, wann etwas überhaupt fertig ist.

    In der Ausstellung geht es um unterschiedliche Strategien mit dem Unvollkommenen umzugehen. Haben Sie während Ihrer Arbeit an der Ausstellung neue Strategien kennengelernt. Wenn ja, welche?
    Immer wieder den Mut zu haben, Platz für Experimentieren zu schaffen, das heisst auch, das Scheitern und die Fehler zu begrüssen, Verspieltes und Unkontrolliertes zuzulassen. Aber auch zu erkennen, wo Qualitätsstreben wichtig ist – wir wollen die Menschen schliesslich willkommen heissen.

    Der Name der Ausstellung ist abstrakt und bietet viel Interpretationsspielraum. Können Sie uns einen kleinen Vorgeschmack liefern?
    Wir zeigen, wie Produktionsfehler zu Kunst oder in Sammlungen wertgeschätzt werden, etwa die Sammlung missgestalteter Zündhölzer von Peter Herbert oder Programmierfehler in Games, die zu humorvollen Drehs führen können. Oder wie Gestalter/innen mit Erwartungen spielen und absichtlich die Grenzen des Möglichen und des sogenannt Perfekten ausloten, wie die Melted Bronze-Stühle von Pieke Bergman.
    Aber auch unser Publikum kann mitmachen. Wir sammeln in einem Blog ihre Geschichten und es gibt in der Ausstellung eine Werkstatt, in der alle perfekt unperfekte Stühle bauen können.

    Das Streben nach Perfektion ist wie ein Wettlauf gegen die Unendlichkeit. Es ist unmöglich, immer perfekt zu sein. Wieso ist das Bedürfnis nach Perfektion heutzutage dennoch so gross?
    Heute wird Unordnung mit Versagen und Kontrollverlust gleichgesetzt, genau wie zügelloses Essen oder Trägheit. Auch Apps und Fitness-Tracker ermahnen uns daran. Der Optimierungsdruck wird auch durch Gesellschaftsbilder und Körperdiskurse speziell auf den Social Media verbreitet, mit Idealen von Reinheit und Perfektion. Da entsteht das Bedürfnis, dagegen zusteuern. Vielleicht spielt auch unsere hochtechnologisierte Welt eine Rolle, dass der Reiz des Unvollkommenen attraktiver wird. Mit dem neuen Interesse am Handwerk und an natürlichen Materialien wird die Auseinandersetzung mit dem Unperfekten aktuell.

    Was ist der Vorteil, wenn man Fehler macht?
    Die Einsicht, es geht nicht ohne. Vor allem in kreativen Prozessen und in der Forschung. Hier treiben Fehler auch die Kreativität an und führen zu einem Erkenntnisgewinn. In unserem täglichen Leben sind wir vielleicht auch aufgefordert, mit den eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten Frieden zu schliessen und eine Fehlerkultur zu üben. Man kann durchaus auch mal ein Missgeschick feiern und die Korken knallen lassen.

    Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit sie sagen können, dass die Ausstellung ein voller Erfolg war?
    Wenn unsere Besuchenden Entdeckungen machen, vergnüglich Neues lernen, ins Gespräch kommen und vor allem: nach dem Ausstellungsbesuch noch weiter Lust am Thema haben und mehr wissen wollen. Und zudem erfahren, dass man sich bei uns auch selber einbringen kann.

    Welche Message würden Sie gerne unserer Leserschaft bezüglich des Auseinandersetzens mit Makel, Mankos und Fehlern auf den Weg geben?
    Seien Sie auch mal unperfekt perfekt, haben Sie den Mut zum Lückenhaften oder Unpassenden und hinterfragen Sie Normierungen und ästhetische Vorstellungen. So lassen sich auch die Qualitäten des Fehlerhaften finden. Der Klebstoff beim Post-it zum Beispiel galt zunächst als misslungen und unbrauchbar, da er viel zu wenig haftete. Erst Jahre später entdeckten die Materialforscher per Zufall, dass man diesen Klebstoff ja gebrauchen kann. Das war der Anfang der Erfolgsgeschichte des Post-its.

    Interview: Lilly Rüdel

    www.gewerbemuseum.ch

    Bild: ProLitteris, Zurich, Kunstwerk: Heike Bollig: Errors in Production, Kitchen Sponge, o. J.
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