«Komplementäres Angebot Selbsthilfe wird noch unterschätzt»

    Die Zahl der Selbsthilfegruppen und -organisationen in der Schweiz wächst stetig. Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz setzt sich mit 22 regionalen Selbsthilfezentren für die Selbsthilfe ein – immer mit Fokus auf die Betroffenen. Geschäftsführer Lukas Zemp spricht hier über die Bedeutung der Selbsthilfe, die Verankerung in der Gesundheitsversorgung, sowie die Digitalisierung als Chance.

    (Bilder: Selbsthilfe Schweiz) Geschäftsführer Lukas Zemp: «Die bisherige finanzielle Unterstützung reicht bei weitem nicht aus, um eine langfristige Finanzierung und Optimierung der Selbsthilfe sicherzustellen.»

    Für diejenigen, die Selbsthilfe Schweiz nicht kennen: Wie würden Sie die Stiftung kurz charakterisieren?
    Selbsthilfe Schweiz versteht sich vor allem als Dienstleister, Netzwerkeinrichtung und Fachstelle für die Selbsthilfe in der Schweiz, die für die notwendige organisatorische, qualitative, finanzielle, kommunikative und politische Unterstützung und für die Begleitung der 22 regionalen Selbsthilfezentren, der Partner im Gesundheits- und Sozialwesen und der Selbsthilfebewegung in der Schweiz sorgt.

    Was sind die wichtigsten Dienstleistungen von Selbsthilfe Schweiz und von den 22 regionalen Selbsthilfezentren?
    Die wichtigsten Angebote und Dienstleistungen von Selbsthilfe Schweiz als Dachorganisation sind Qualitätssicherung, Weiterbildungen, Administration, Datenbankmanagement, nationale Selbsthilfeprojekte mit Drittpartnern wie Gesundheitsförderung Schweiz (z.B. das «Selbsthilfefreundliche Spital»-Modell), oder dem Bundesamt für Gesundheit und grösseren Stiftungen, Leistungsvereinbarungen (z.B. mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV), Kommunikation, Lobbying und Vernetzung mit nationalen und internationalen Partnern sowie die Entwicklung von zusätzlichen analogen und digitalen Selbsthilfeangeboten. Die Vermittlungs- und Betreuungsarbeit der 22 regionalen, von Selbsthilfe Schweiz unabhängigen Selbsthilfezentren, ist von entscheidender Bedeutung, um den Betroffenen und ihren Angehörigen in den Selbsthilfegruppen zu helfen, sich selbst zu organisieren und gegenseitig in verschiedensten Themenbereichen im Gesundheits- und Sozialwesen zu unterstützen. Zwei Drittel davon sind Gesundheitsthemen und -probleme.

    Die Zahl der Selbsthilfegruppen und -organisationen in der Schweiz wächst stetig. Wie ist der Status quo und weshalb ist das Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Selbsthilfe so gross?
    Selbsthilfe Schweiz zählt in ihrer nationalen Datenbank aktuell rund 2’800 verschiedene Selbsthilfeangebote und Selbsthilfegruppen und ca. 200 Selbsthilfeorganisationen zu über 300 gesundheitlichen und sozialen Themen. Unabhängig davon gibt es noch unzählige andere, unabhängige Selbsthilfegruppen in anderen Organisationen und Verbänden und im Internet. Trotz steigender Nachfrage nach Selbsthilfeangeboten und deren zunehmend wichtigeren Bedeutung für das Schweizer Gesundheits- und Sozialwesen fehlen noch immer die notwendigen finanziellen und strukturellen Ressourcen für eine nachhaltige Sicherstellung und Optimierung des Angebots in der Schweiz, wie dies in Deutschland und Österreich bereits vor Jahren erfolgreich umgesetzt wurde.

    Gemeinsam geht es besser: Betroffene und Angehörige erleben in der Selbsthilfegruppe Hilfe und Solidarität, werden selbst aktiv und übernehmen Verantwortung.

    Wie gut ist die Selbsthilfe in der Gesundheitsversorgung verankert?
    Die Bedeutung der Selbsthilfe gewinnt zunehmend an Verankerungen im Gesundheitswesen. Selbsthilfeangebote eignen sich gut als komplementäre Unterstützungsangebote zu den anderen medizinischen, psychologischen und sozialen Beratungs- und Therapieangeboten. Sie ergänzen diese gut, konkurrenzieren sie aber nicht. Trotz steigender Nachfrage nach Selbsthilfeangeboten und deren zunehmend wichtigeren Bedeutung für das Schweizer Gesundheits- und Sozialwesen fehlen aber noch immer die notwendigen finanziellen und strukturellen Ressourcen für eine nachhaltige Sicherstellung und Optimierung des Selbsthilfeangebots in der Schweiz.

    Die Motion «Gesundheitskompetenz stärken durch Hilfe zur Selbsthilfe» von Nationalrätin Sarah Wyss wurde im Februar 2024 sistiert. Wieso finden Selbsthilfeanliegen in der Politik kein Gehör und wie ändern Sie das?
    Wegen fehlender gesetzlicher Verankerung der Selbsthilfe, fehlender Bekanntheit und Anerkennung, fehlender Lobby und unklaren Zuständigkeiten und Rollen zwischen Bund und Kantonen. Der Wert von Selbsthilfe als komplementäres Unterstützungsangebot von Betroffenen und Angehörigen wird zum Teil noch unterschätzt. Nach mehreren erfolglosen parlamentarischen Vorstössen im Nationalrat von 2004, 2016 und 2021 mit der Unterstützung von Nationalrätin Sarah Wyss, SP Basel-Stadt, hat die Stiftung Schweiz 2024 entschieden, ihre Strategie zu ändern und den Weg für politische Vorstösse über den Ständerat zu versuchen. In enger Zusammenarbeit mit der Ständerätin Maya Graf, Grüne Basel-Landschaft, wurde am 13. Juni 2024 die Interpellation «Gesundheitskompetenz stärken und Krankheitskosten senken durch die Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe» eingereicht, die bereits in der Herbstsession 2024 am 26. September 2024 im Ständerat behandelt wurde (vgl. Kasten unten).

    Wie fördern oder unterstützen Kantone und Bund Selbsthilfe Schweiz?
    Die Förderung der Selbsthilfe wird von allen Kantonen und vom Bund über die Strategie «Förderung des Selbstmanagements» vom Bundesamt für Gesundheit BAG sowie über das Programm «Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV)» vom BAG, der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und ‑direktoren (GDK) und der Stiftung «Gesundheitsförderung Schweiz» begleitet und unterstützt. Selbsthilfe Schweiz ist dankbar für diese Unterstützung. In Anbetracht der steigenden Bedeutung und Nachfrage der Selbsthilfe als Folge derer zunehmenden Bekanntheit im Schweizer Gesundheitswesen reicht die bisherige finanzielle Unterstützung dennoch bei weitem nicht aus, um eine langfristige Finanzierung und Optimierung der Selbsthilfe sicherzustellen. Deshalb ist Selbsthilfe Schweiz gefordert, mit innovativen Ansätzen und Projekten laufend zusätzliche finanzielle Mittel von Stiftungen, Drittpartner/innen und Spende/innen zu generieren versuchen, was das kleine Team von Selbsthilfe Schweiz aber auch der regionalen Selbsthilfezentren zusätzlich herausfordert und intensiv beschäftigt.

    Was sind wichtige Projekte von Selbsthilfe Schweiz?
    Das Projekt «Gesundheitskompetenz dank selbsthilfefreundlichen Spitälern» von Selbsthilfe Schweiz und Gesundheitsförderung Schweiz ist eines der wichtigen Projekte von Selbsthilfe Schweiz von 2021 bis 2025. Das Projekt fördert die Zusammenarbeit zwischen lokalen Selbsthilfezentren, Selbsthilfegruppen und Spitälern. Dadurch lernen Patient/innen und Angehörige die gemeinschaftliche Selbsthilfe kennen und können sie als Unterstützung in ihrem Umgang mit Erkrankungen nutzen. Mehr als 51 Spitäler und Kliniken sind bereits «selbsthilfefreundlich». Bis Ende 2025 sollen es rund 80 sein. Neben Gesundheitsförderung Schweiz unterstützen auch die Eidgenössische Qualitätskommission EQK die Fort- und Weiterentwicklung des Modells «Selbsthilfefreundliche Spitäler» und eine namhafte Schweizer Stiftung dessen langfristige Verankerung im Schweizer Gesundheitswesen. Zusätzlich beschäftigt sich Selbsthilfe Schweiz zusammen mit den 22 regionalen Selbsthilfezentren seit Mitte 2023 intensiv mit Fragen der digitalen Transformation der internen und externen Strukturen, Prozesse und des Selbsthilfeangebots.

    Interview: Corinne Remund

    www.selbsthilfeschweiz.ch


    Interpellation «Selbsthilfe» von Ständerätin Maya Graf

    Die Interpellation 24.3654 «Gesundheitskompetenz stärken und Krankheitskosten senken durch die Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe» von Ständerätin Maya Graf, Grüne Basel-Landschaft, wurde am 26. September 2024 in der Herbstsession im Ständerat in Bern behandelt. Der Bundesrat wurde gebeten, unter anderem Fragen der rechtlichen Verankerung, der Qualitätssteigerung und der Patientenzentriertheit im Schweizer Gesundheitswesen, der Bekanntheit und der Relevanz der gemeinschaftlichen Selbsthilfe in Politik und bei Behörden sowie deren zukünftige Finanzierung zu beantworten. Die Interpellation von Maya Graf wurde am 26. September 2024 im Ständerat in Bern kurz besprochen. Sie fand weder im Bundesrat noch im Ständerat einmal mehr wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlage der Selbsthilfe in der Schweiz keine Unterstützung und Zustimmung. Selbsthilfe Schweiz bleibt weiter am (Selbsthilfe-)Ball.
    www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20243654

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